Arete Visuelle Geschichte des Lateinischen Alphabets

Über das Projekt

Konzept und Herangehensweise

ARETE ist ein Projekt des UCLABs der Fachhochschule Potsdam. Das zentrale Ergebnis des Projekts ist die interaktive Visualisierung der Geschichte des lateinischen Alphabets. In der Visualisierung werden insbesondere die zeitlichen und formalen Beziehungen der verschiedenen Schriftarten untereinander dargestellt.

Unser wichtigstes Anliegen war es, die Vielfalt und Varianz des lateinischen Alphabets im Laufe der Jahrhunderte zu zeigen. Die oft suggerierte lineare Entwicklung von der römischen Capitalis über die Antiqua-Schriften zur heutigen Grotesk ist nur eine mögliche Sichtweise von vielen. Wie jede kulturelle Entwicklung ist auch die Schriftgeschichte im Kern ein Netzwerk. Über die Jahrhunderte hinweg haben Gestalter:innen von andern gelernt, sich auf existierende Entwürfe bezogen, Varianten entwickelt. Es gab Zeiten der stärkeren Vereinheitlichung und dann wieder Zeiten großer Varianz. Das Arete-Projekt will diese Vielfalt und diese unterschiedlichen Gestaltungs-Linien aufzeigen und verdeutlichen.

Ein weiteres Anliegen war uns dabei, nicht nur die typografische, sondern auch die kalligrafische und handschriftliche Geschichte darzustellen. Auch nach der Erfindung des Buchdrucks wurde noch sehr viel per Hand geschrieben – im 17. und 18. Jahrhundert kam es aufgrund verschiedener sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen sogar regelrecht zu einer Blüte der Handschrift.

Um den geschichtlichen Verlauf gliedern und vermitteln zu können, haben wir Schriftklassen genutzt. Diese Schriftklassen stehen für bestimmte, historisch klar beschreibbare Ausprägungen des lateinischen Alphabets. Die Entwicklung dieses Klassen-Systems basiert auf existierender Fachliteratur. Insbesondere die Bücher »Die schöne Schrift« von František Muzika, »Schriftkunst« von Albert Kapr und »Bruckmann’s Handbuch der Schrift« von Erhardt D. Stiebner und Walter Leonhard waren hierfür maßgeblich.

Uns ist es dabei wichtig zu betonen, dass diese Klassifikation lediglich dazu dient, den historischen Verlauf zu verdeutlichen. Sie soll keinen Versuch darstellen, den aktuell verfügbaren Schriftenbestand zu organisieren. Der Schriftenentwerfer Gerrit Noordzij hat in seinem Buch »The Stroke« eine relevante Kritik am traditionellen Klassifikationssystem geäußert. Als eine Alternative schlägt er ein sehr plausibles System vor, dass lediglich auf der Varianz der Schriftlinie beruht. Für die historische Einordnung ist die Verwendung von Schriftklassen aber notwendig.

Jede Schriftklasse sind eine Reihe von repräsentativen Schrift-Beispielen zugeordnet. Die Auswahl der Beispiele soll die wichtigsten Charakteristika der jeweiligen Schriftklasse zeigen. Auch hier wird deutlich, dass einige Schriftklassen eine enorm hohe Varianz aufweisen, während andere eine höhere Ähnlichkeit untereinander besitzen.

Um die unterschiedlichen Schriftklassen besser einordnen zu können, befindet dich auf der linken Seite der Visualisierung eine Zeitachse mit Ereignissen aus Gesellschaft, Technik und Kultur. Diese Ereignisse bieten Orientierung und stellen einen allgemeinen geschichtlichen Rahmen für die Schriftentwicklung dar. Die Visualisierung bietet somit einen visuellen, nicht-linearen und explorativen Zugang zur Geschichte des lateinischen Alphabets.

Es ist uns wichtig zu betonen, dass das Projekt in dieser Form noch nicht abgeschlossen ist. Es ist vielmehr ein erster Versuch, die Geschichte des lateinischen Alphabets in eine visuelle, vernetzte Struktur zu bringen und die großen Entwicklungen Schriftgeschichte anschaulich darzustellen.

Schriftgeschichte

Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, was für eine kleine Rolle das Thema Schriftgeschichte im akademischen Diskurs einnimmt. Gemessen daran, dass Schreiben und Lesen eine fundamentale Kulturtechnik ist, wird verhältnismäßig wenig zur Kultur und Geschichte der Schrift geforscht und publiziert.

Das Projekt ARETE beschreibt die formale Entwicklungsgeschichte des lateinischen Alphabets. Damit sollen keine anderen Schriftsysteme ausgegrenzt werden - es gab innerhalb des Projekts intensive Diskussionen, ob z.B. das Griechische oder die archaische Lateinschrift in der Visualisierung berücksichtigt werden sollten. Letztendlich geht es uns aber darum, die Entwicklungsgeschichte und den Formenreichtum eines scheinbar standardisierten Schriftsystems erfahrbar zu machen.

Aus gestalterischer Sicht beschäftigt sich insbesondere die Typografie und die Kalligrafie mit dem Thema Schriftgeschichte. Beide Disziplinen haben dabei einen sehr spezifischen Blick auf den historischen Verlauf. Die Typografie sieht alle Schriftentwicklungen vor Gutenberg als eine direkte Hinleitung zu Satzschriften: die römische Kapitalis wird zu unseren Großbuchstaben, die karolingische Minuskel zu unseren Kleinbuchstaben. In der typografisch geprägten Sicht wird oft eine lineare Entwicklung vom protosinaitische Schrift zu den lateinischen Großbuchstaben suggeriert. Aus der Glyphe Ochse wird ein gedrucktes A.

Die Kalligrafie dagegen versucht sich sowohl von der Typografie als auch von der einfachen Handschrift abzugrenzen und betont insbesondere die Traditionslinie des mittelalterlichen, illuminierten Codex. Man bemerkt: beide Disziplinen haben ihre spezifischen historischen Linien und Standpunkte und betonen dabei eher die Differenzen als die Gemeinsamkeiten. Es gibt kaum Ansätze, die den Versuch unternehmen, die typografischen, kalligrafischen und handschriftlichen Traditionslinien einheitlich als ein in sich geschlossenes System zu betrachten.

Am ehesten gelingt es František Muzika, einem tschechischen Künstler und Grafiker, die Verbindungen und historischen Linien zwischen verschiedenen Schriftformen aufzuzeigen. Sein Buch »Die schöne Schrift« enthält einen sehr großen Fundus an historischen Schriftentwicklungen. Er zeigt auch deutlich auf, dass es Parallelentwicklungen gab und bestimmte Formen der Schriftproduktion weitaus länger in Gebrauch waren als oft angenommen. Auch nach der Erfindung des Buchdrucks wurde noch jahrhundertelang per Hand Bücher geschrieben und illuminiert.

In den letzten Jahren hat sich die Nutzung von Schrift durch digitale Technologie deutlich verändert. Die individuelle Schriftproduktion ist nicht mehr auf Handschrift beschränkt, sondern findet vornehmlich im digitalen Kontext mit Hilfe unterschiedlicher Software-Systeme und ganz verschiedenen Schriften statt. Da auch viele historische Schriften ihren Weg in digitale Systeme gefunden haben, ist es sinnvoll, auch der Allgemeinheit ein besseres Verständnis von Schriftarten und Schriftgeschichte zu ermöglichen. Gleichzeitig erlebt die Kultivierung von Handschrift und Kalligrafie derzeit eine Renaissance – vermutlich auch als Gegenbewegung zur digitalen Schriftproduktion. Auch hier ist es naheliegend, die historischen Beziehungen und Verbindungen zwischen Kalligrafie und Typografie aufzuzeigen.

Es wird also deutlich, dass ein disziplinär eingeschränktes, linear ausgerichtetes Verständnis von Schriftgeschichte nicht mehr zeitgemäß ist. Es ist daher angebracht, einen synthetischen Ansatz zu entwickeln, der in seiner Darstellung der Schriftgeschichte unterschiedliche Traditionslinien miteinander verbindet und diesen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Team & Workshop

Team FHP: Prof. Boris Müller (Leitung und Konzeption), Jonas Pelzer (Design und technische Realisierung), Ayse Nacak (Recherche und Design), Elsa Woelk (Recherche)

Expert:innen: Sybille van Zuylen, Erik Spiekermann, Lucas de Groot, Stefanie Weigele

Am 17. Juni 2022 fand an der FH Potsdam ein ganztägiger Expertenworkshop statt, an dem die Visualisierung mit den genannten Expert:innen diskutiert und weiterentwickelt wurde. Die Ergebnisse des Workshops sind die maßgebliche Grundlage für die Struktur der Visualisierung.

Literatur

Eine zentrale Ressource für Schriften des 20. Jahrhunderts war die von Prof. Michael Wörgötter digitalisierte Schriftenkartei, die er dem Letterform Archive zur Verfügung gestellt hat.

Finanzierung

Das Projekt ARETE wurde finanziell durch Mittel des Innovationsfonds der Fachhochschule Potsdam ermöglicht.

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